Stiftsmusik Stuttgart

Historie

Die evangelische Stiftskirche ist die älteste und größte Kirche Stuttgarts. Für die Region hat sie in geistlicher und musikalischer Hinsicht eine Zentralfunktion. Architektonisch ist sie geprägt durch die Zeit der Romanik und Gotik, aber auch durch den Wiederaufbau nach dem Krieg und besonders durch die Renovierung und Neugestaltung der Jahre 1999 bis 2003. Wertvolle Kunstwerke und Glasfenster aus mehreren Jahrhunderten stehen nun in einer aussagekräftigen Spannung zueinander. Einen ausführlichen Überblick über die Baugeschichte und die Kunstwerke bietet www.stiftskirche.de.

Über die Geschichte der Stunde der Kirchenmusik schrieb Stiftsorganistin Elsie Pfitzer im Programmheft des Stiftsmusikfests 2008:   

Die Stunde der Kirchenmusik wurde von August Langenbeck (1912-1981) gegründet, einem vielseitig interessierten und versierten Schüler von Karl Straube und Clemens Krauss. 1934 kam der in Wuppertal geborene und an der Nordsee aufgewachsene junge Mann nach Stuttgart, um das Kantorenamt an der Lukaskirche zu übernehmen. Bereits ein Jahr später gründete er den Stuttgarter Kantatenchor, sowie - gemeinsam mit dem Stiftsorganisten Arnold Strebel, der auch Professor an der Musikhochschule war, mit Prof. Hermann Keller und Landeskirchenmusikwart Wilhelm Gohl – nach Leipziger Vorbild als Vorläuferin der Stunde der Kirchenmusik die Stuttgarter Motetten, seit 1939 in der Stiftskirche durchgeführt, eine als »kirchenmusikalisch-liturgische Wochenschlußfeier« geplante und gestaltete Veranstaltungsreihe am Samstagnachmittag von 16 bis 16.40 Uhr. Ein wichtiger Bestandteil war das gemeinsame Lied, meist jenes der neuen Woche; darum herum gruppierten sich Orgelwerke, Gesang, Lesungen, Gebete und Segen in ausgewogener Symmetrie. Die Programme wurden noch in schönster Reinschrift von Hand »gemalt« und waren für 20 Pfennig zu erhalten; der Eintritt war frei.

Trotz Verlegung, Heizungsproblemen und anderen Kriegsfolgen konnte die Reihe bis zum Frühjahr 1944 in der Stiftskirche durchgeführt werden, und nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft nahm sie August Langenbeck sofort wieder auf, zunächst in der Schloss-, von 1950 bis zur Einweihung der wieder aufgebauten Stiftskirche im Festgottesdienst am 1. Juni 1958, dann in der Markuskirche, wo Karl Gerok als Organist tätig war. Gemeinsam mit ihm trat August Langenbeck nun den Dienst an der Stiftskirche an. Aufgrund der Erfahrungen mit der Motette wählte der Stiftskantor allerdings einen Wochentag statt des Samstags (ursprünglich war der Donnerstag angestrebt, nicht der Freitag), einen späteren Beginn und eine längere Dauer (ca. 1 Stunde), damit nicht nur gottesdienstliche Literatur (auf die er den Hauptakzent legen wollte), sondern auch umfangreichere Werke musiziert werden könnten. Den Titel »Stunde der Kirchenmusik« entlieh August Langenbeck von der Hamburger St. Petri-Kirche. Vom Programm seiner ersten Stunde am 6. Juni 1958 bis zu jenem seiner letzten am 24. April 1981 (in gedruckter Form auch äußerlich immer gleich, im besonderen Format auf hellgrünem Papier mit dem Symbol der Stiftskirche auf der Vorderseite) blieb er dieser Grundlage meist treu – wenn auch manchmal ganz andere Programmgestaltungen vorkamen. Der freie Eintritt blieb ebenfalls erhalten, und der Preis für das Programm musste nur ein einziges Mal erhöht werden, von 50 Pf. auf 1 DM (1973).

Die Programmauswahl bestimmte das Kirchenjahr, aber in diesem Rahmen war Platz für die gesamte Vielfalt europäischer und außereuropäischer Chor- und Instrumentalmusik, speziell natürlich für Orgel, aber häufig auch für Instrumente von der kammermusikalischen bis zur großen symphonischen Besetzung (die allerdings auf der Westempore trotz des verschiebbaren Orgel-Spieltisches kaum genügend Platz finden konnte...).

Als Ausführende waren hauptsächlich Stuttgarter Chöre, Solisten und Organisten gefragt, die teilweise in Hunderten von Konzerten mitwirkten, allen voran Herbert Liedecke, insbesondere seit seinem Dienstantritt als Stiftsorganist 1978, und seine Ehefrau und Kollegin Eva Liedecke-Hölderlin, die als Solistin wie als Continuo-Spielerin (vor allem im Bach-Kantaten-Zyklus) an der Stiftsorgel agierte. Die Stuttgarter Kirchenmusiker schlossen sich in der Stunde auch häufig zum gemeinsamen Musizieren in größerer Besetzung zusammen, und im Turnus von zwei Jahren führten sie »Stuttgarter Kirchenmusiktage« durch mit einer Vielzahl von Gottesdiensten und Konzerten in allen Kirchen, der Stiftskirche aber als Zentrum. Mit den 9. Stuttgarter Kirchenmusiktagen im November 1978 verabschiedete sich August Langenbeck auch als Bezirkskantor und Künstlerischer Leiter dieser Veranstaltungen. Später entschieden sich die Stuttgarter Kirchenmusiker/innen dafür, die hierfür erforderlichen Zuschüsse lieber auf ihre Konzerte während des Jahres zu verteilen, und so werden heute einzelne Projekte gefördert. Die Gemeinsamkeit wird jedoch in Form des Halbjahresverzeichnisses »Musik in Stuttgarter Kirchen« dokumentiert, wo alle Ensembles, Konzerte und die Musik im Gottesdienst aufgeführt sind. Das gemeinsame Singen wird auch immer wieder einmal gepflegt, zum Beispiel bei der Aufführung des Oratoriums Bergpredigt beim Kirchentag 1999, beim Dankkonzert für die Spendenaktion zur Renovierung der Stiftskirche mit Mendelssohns Lobgesang  Ende Oktober 2003 oder beim großen Chöre & Bläser Open Air des Stiftsmusikfestes.

Über den Kreis der Interpreten aus der Region hinaus hatte August Langenbeck jedoch als Redakteur für Geistliche Musik/Chormusik beim Süddeutschen Rundfunk, 2. Programm, Kontakte zu internationalen Solisten und Ensembles, die eine Funkaufnahme im Studio der Villa Berg mit einer Stunde der Kirchenmusik verbinden konnten. So kamen Gäste aus aller Welt zum Musizieren, z. B. der Wittenberg Choir, Springfield, USA (1961) oder The Philippines Madrigal Singers, Manila (1976).

Die Zusammenarbeit mit dem SWR ist heute noch sehr eng; es entstehen Kooperationen und Mitschnitte, und auch beim Stiftsmusikfest war das SWR Vokalensemble einer der Sechs Chöre. Auf die liturgischen Programmbestandteile wurde in all den Jahren unter August Langenbeck nur höchst selten und ungern verzichtet. Neben dem Kirchenjahr bestimmten – und bestimmen natürlich bis heute - auch Jubiläen wie Musiker-Geburtstage die Programmgestaltung (z. B. 1959 Werke von Händel zu seinem 200. Geburtstag, Musik von Bach an seinem 250. Todestag 2000 etc.) oder bestimmte Inhalte wie z. B. Wallfahrtslieder, Gregorianik, ein bestimmter Psalm in verschiedenen Vertonungen etc.

Mehrere »Reihen in der Reihe« wurden durchgeführt, deren spektakulärste in der frühen Zeit der Stunde wohl der berühmte Bach-Kantaten-Zyklus war, bei welchem unter der Hauptregie und –Planung Hans Grischkats in loser Folge, meist an einem Freitag  pro Monat zu zweit eingesetzt, alle Kirchenkantaten Bachs aufgeführt wurden (von September 1958 bis Februar 1970). Hernach war die Stiftskirche nach Bachs Tod eine der ganz wenigen, vielleicht sogar die einzige Kirche, in der seit Bachs Tod 1750 seine Kirchenkantaten in einer zusammenhängenden Folge von Veranstaltungen und zudem im Bezug zum Kirchenjahr und zum Gottesdienst aufgeführt worden waren – jedenfalls, soweit eine nachträglich eingegangene Pressemeldung über einen gleichartigen Zyklus in Bad Homburg von 1945-64 nicht zutreffen sollte. Neben Hans Grischkat und seinen Chören, vor allem dem Schwäbischen Singkreis, wirkten bei diesem Zyklus August Langenbeck (Stuttgarter Kantatenchor), Wolfgang Gönnenwein (Süddeutscher Madrigalchor), Gerhard Wilhelm (Stuttgarter Hymnus-Chorknaben), Helmuth Rilling (Gächinger Kantorei) und Martin Hahn (Stuttgarter Oratorienchor) mit ihren Chören und Ensembles mit.

In weiteren Binnenreihen gestaltete August Langenbeck Themen wie »Die Gesamtaufführung der ›Symphonie Sacrae‹ von Heinrich Schütz« (ab 1967), »Das Choralwerk Johann Sebastian Bachs in 22 Folgen« (1962-1964), »Das Orgelbüchlein« in 7 Teilen (1960-1961), Buxtehude »Das Jüngste Gericht« (1961), ab September 1970 einen Bach-Zyklus, in dessen Zentrum das Orgelwerk stand, ferner eine ausführliche Reihe »Komponisten in unserem Raum«, wo Werke von Helmut Bornefeld, Martin Gümbel, Erhard Karkoschka, Gerd Witte, Fritz Werner u. v. a. mehr zu Gehör gebracht wurden. Die neuere Musik war dem Stiftskantor immer besonders wichtig, ebenso als Pendant die ganz alte, häufig auch unbekannte. So sind hier beispielsweise anzuführen die Stuttgarter Erstaufführung von Olivier Messiaens Zyklus »La Nativité du Seigneur« durch Almut Rößler (1960), oder die Messe für Singstimme, Orgel und Tambourin von André Jolivet (1965), oder ein Programm, in dem Schönbergs Variationen über ein Rezitativ op. 40 mit Weberns Kanons sowie Motetten und Orgelwerken Heinrich Isaacs kombiniert waren (1960). Auf der anderen Seite, jener der alten Musik, sind Beispiele zu verzeichnen wie etwa die Aufführung der Messe zu fünf Stimmen von  Pierre de la Rue (1964) oder der »Empfängnishistorie« von Rogier Michael (1964), ganz zu schweigen von selten gespielten Kostbarkeiten, geistlichen Konzerten und Solokantaten wie jenen von Balduin Hoyoul und Constantijn Huygens – in einer Zeit, da vieles noch nicht gedruckt vorlag.

Um zahlreiche Werke überhaupt aufführen zu können, schrieb der Stiftskantor sich sorgfältig – und natürlich handschriftlich, ohne Computer-Programm! - zuerst einmal das Stimmenmaterial aus der Partitur heraus; viele Beispiele sind in der Bibliothek erhalten. (Dasselbe gilt auch für die Stimmen zum Bach-Kantaten-Zyklus, die vielfach noch von Hand geschrieben waren.) Auch sind viele Uraufführungen zu verzeichnen, insbesondere von Johann Nepomuk David (opus 60, 1 965/66, 1970), sowie etwa »AD VITAM« von Gerhard Steiff, uraufgeführt 1978. Auch eher ungewöhnliche Stunden fanden sich dazwischen immer einmal eingeschoben, z. B. ein konzertanter Neger (sic!)-Gottesdienst 1970 (in Verbindung mit dem damals noch bestehenden Amerika-Haus Stuttgart), die Vorführung der restaurierten Hauptorgel (1970), »Neue geistliche Lieder« (1972) oder »Bilder des Malers Maertens de Vos (Dias) und dazugehörige flämische Motetten, mit Erläuterungen von K. M. Komma« (1975), oder »Texte unserer Zeit (Hammarskjöld, Bonhoeffer u. a.) zur Passion und Musik aus dem 16. und 17. Jahrhundert« (1975).

Als im Sommer 1977 in Stuttgart die Bundesgartenschau stattfand, wagte man erstmals das Experiment, nicht wie sonst in den Schulferien die Reihe für mehrere Wochen pausieren zu lassen, sondern stattdessen Orgelkonzerte durchzuführen. Der Erfolg war so groß, dass sich der »Internationale Orgelsommer« in der Stiftskirche seitdem zu einem festen Bestandteil des Jahresplans entwickelt hat (seit Sommer 1979 nur unterbrochen von der Sommerakademie Johann Sebastian Bach bzw. dem Europäischen Musikfest).

In der Stunde der Kirchenmusik vom 9. Juni 1978 verabschiedete sich August Langenbeck mit seinem Chor von den Zuhörern der Reihe. Seit dem 1. Juli lag dann deren Leitung in der Hand Manfred Schreiers; Martha Schuster trat als Stiftsorganistin die Nachfolge Herbert Liedeckes an, ich selbst (Elsie Pfitzer) folgte bereits zum 1. Januar 1978 auf die bisherige Assistentin des Stiftskantors, Heidi Klotz-Kadelbach. Die Programme der Stunde der Kirchenmusik wurden äußerlich und inhaltlich umgestellt, auf DinA 5 und auf intensivere Einführungen. Im liturgischen Ablauf kam es zunächst zum Verzicht auf das gemeinsame Lied, später (seit Juli 1983) entfielen alle liturgischen Bestandteile, mit ihnen auch die musikalisch-theologische Kooperation mit den Liturgen, Stuttgarter Pfarrern.

Die wichtigsten Grundtendenzen wurden jedoch gewahrt: Die Evangelische Gesamtkirchengemeinde blieb der Träger, mithilfe öffentlicher Zuschüsse und Spenden der Zuhörer konnte lange Zeit (bis September 1998) auch der freie Eintritt gewährleistet werden. Die Mitwirkenden waren dennoch häufig zum großzügigen Verzicht auf Teile ihres Honorars oder gar ihres ganzen Entgelts aufgerufen, sonst wären kostspielige, großbesetzte Höhepunkte wie Bachs Weihnachtsoratorium an fünf Abenden (1978/1979), Händels Orgelkonzerte und W. A.Mozarts Krönungsmesse (1979), Händels Messias (Dokumentation in drei Teilen, 1979/1980), Mozarts Litaniae (1980) sowie vier Abende mit Händels Oratorien Israel in Ägypten und Saul im November 1981 nicht möglich gewesen.

Die beiden Wurzeln der Kirchenmusik, die Chor- und die Orgelkomposition, standen im Zentrum der Planung Manfred Schreiers. Erstere führte in ihrer Entwicklung zum Gesamtkunstwerk der Oper, letztere zur gesamten Instrumentalmusik bis hin zur großen Symphonie. Diese Entwicklungen zurückzuverfolgen bis zu ihren Quellen war ein Anliegen der Programmgestaltung in jener Zeit. Auch die Wort-Ton-Beziehung, ein zentrales Element abendländischer Musik, liegt ja ohne Zweifel im christlichen Gottesdienst begründet, und die Stunde der Kirchenmusik war in ihrer Situation zwischen Konzert und Gottesdienst der ideale Ort für die Gegenüberstellung des gesprochenen und des musizierten Wortes: gemeinsames Ziel beider Richtungen, der Theologie und der Kunst, hier speziell der Musik, ist ja nicht umsonst die »Interpretation«!

So wurden drei Kategorien der Planung gefunden und durchgeführt: Solo-Abende, Ensemble-Veranstaltungen (Chöre oder Instrumentalgruppen, wie Cappella Antiqua 1981 oder Musica Antiqua Köln u. a. ebenfalls 1981), und große oratorische Aufführungen; Mischformen des Typs »Orgel und ...« oder »Chor und ...« waren weniger erwünscht. Die Chorprogramme stellten neben ortsansässigen Ensembles wie dem Württembergischen Kammerchor / Leitung Dieter Kurz, dem Kammerchor Stuttgart / Leitung Frieder Bernius, der Kantorei der Karlshöhe Ludwigsburg / Leitung Siegfried Bauer u. a. – sowie natürlich dem Markusvocalensemble / Leitung Manfred Schreier - die regelmäßig in der Stunde  zu Gast waren, Ensembles aus der gesamten deutschen Musiklandschaft vor, und im »Internationalen Orgelsommer« konnten die Hörer die vielfältige Organistenszene aus aller Welt kennenlernen.        

Durch eine Initiative der Stadt Stuttgart wurden 1980 und 1981 in der »Stuttgarter Chorinitiative« örtliche Chöre finanziell gefördert, damit sie größere Werke aufführen konnten. In anspruchsvollen Reihen wie »Tage für Neue Musik« oder »Musik und Theologie« (gemeinsam mit der vhs Stuttgart) waren  Stunden der Kirchenmusik integriert, in denen Manfred Schreier oder andere Referenten zu Vor- bzw. Nachgesprächen einluden. Auch die Bachakademie ist bis heute mit regelmäßigen Gesprächskonzerten zu Gast in der Stiftskirche. Durch derartige Angebote wie auch den »Internationalen Orgelsommer« konnte die Reihe damals viele neue Zuhörer hinzugewinnen. Legendär sind besonders die Karfreitagskonzerte, u. a. mit der Aufführung der Symphonien Gustav Mahlers in Kombination mit anderenWerken und/oder mit Vorträgen, sowie vor allem Manfred Schreiers stetes Engagement für die zeitgenössische Musik aller Sparten.

In jener Zeit der RAF-Unruhen  konnte es durchaus einmal vorkommen, dass die Stiftskirche oder auch die Schlosskirche von Demonstranten besetzt war; man musste jedoch nur die Ruhe bewahren und in einen anderen Raum ausweichen. Dennoch waren dies spannende Stunden!, ebenso die wenigen Freitage, an denen ein Gastchor oder –solist im Wochenend-Verkehrsstau oder wegen eines Flughafen-Streiks nicht rechtzeitig erscheinen konnte. Irgendeine Lösung fand sich jedoch immer, so erinnere ich mich noch gut an ein solches Reise-Malheur der Heidelberger Kantorei (Leitung: Erich Hübner), die am 6. Oktober 1978 im Stau steckte. Die anwesenden Organistinnen und Organisten unterhielten die Zuhörerschaft gut eine Stunde lang durch ihr Orgelspiel, bis der Chor endlich eintraf und sein Programm darbieten konnte.

Ähnliche Schrecksekunden gab es allerdings auch in den ganz wenigen Fällen, als durch das Zusammentreffen misslicher Umstände die Programme nicht rechtzeitig geliefert werden konnten (dies gilt vor allem für Karfreitag 2004, als die Programme für Frank Martins Oratorium Golgotha deutlich zu sehen, aber trotz geradezu panischer Bemühungen nicht rechtzeitig zu erreichen waren, standen sie doch hinter einer Glaswand in einem hermetisch verriegelten Büroraum...).


Seit 1994 ist Kay Johannsen Stiftskantor und –organist sowie – bis zur Gründung des Kirchenkreises Stuttgart am 1. Januar 2008 – Bezirkskantor im Dekanat Stuttgart-Mitte; seit 1998 ist ausschließlich er für die Programmplanung verantwortlich. Grundzüge der Gestaltung der Stunde der Kirchenmusik wie Orientierung am Kirchenjahr, Präsentation der Vielfalt geistlicher Musik aller Bereiche und Epochen, Abwechslungsreichtum, Qualität der Interpretation u. a. mehr sind unverändert erhalten geblieben. Einiges jedoch hat sich naturgemäß auch geändert, angefangen von den seit 1998 eingeführten Eintrittspreisen bis zur größeren Zahl der auswärtigen Chöre und Solist/innen, die häufig für die Konzerte der Stunde aus allen Ländern Europas, aus den USA und Kanada anreisen.

Das Stuttgarter Publikum erhält so verstärkt Einblick in das Musikleben anderer Länder (z. B. der skandinavischen mit ihrem blühenden Chorwesen) und Traditionen. Bedeutende »Reihen in der Reihe« sind zusätzliche Publikums-Magnete, allen voran der beständigste, der alljährlich im Sommer stattfindende »Internationale Orgelsommer«. Weitere Reihen nach dem am Karfreitag 1998 mit der Sinfonie Nr. 7 e-Moll abgeschlossenen Mahler-Zyklus war Bachs Orgelwerk, gespielt von Kay Johannsen von April bis Juli 1997, als das nächste große derartige Projekt. Eine Reihe von Veranstaltungen und Konzerten begleitete den Evangelischen Kirchentag in Stuttgart 1999; daran schloss sich sogleich mit der Schließung der Stiftskirche zur Renovierung ein vielbeachteter Zyklus von elf  Konzerten in der Schlosskirche zu Bachs Kammermusik an. An den Karfreitagen werden nun große oratorische Werke von Bach bis zu Schönberg und Zemlinsky mit der Stuttgarter Kantorei unter Leitung von Kay Johannsen aufgeführt, zuletzt im laufenden Jahr nach längerer Pause wieder einmal Bachs Johannespassion. Der Sommer 2000 (also im Bachjahr) brachte in der für kleinere Besetzungen akustisch hervorragend geeigneten Schlosskirche den Zyklus »Die Welt der Klavierinstrumente«, mit sieben Konzerten bis zur »Langen Nacht mit Bach« und mit Kay Johannsen an Bachs 250. Todestag.

Ein interessanter Kleinzyklus waren im Mai 2001 die drei Orgelkonzerte mit »Musik nach Texten und Bildern«, dem wenige Wochen später, ab 8. Juni vier Abende mit Bachs Orchestermusik in der Leonhardskirche folgten. Ebendort war im darauffolgenden Jahr der Zyklus »Lust auf Neues?« über Tendenzen in der neuen geistlichen Musik zu hören.

Ein über die Jahre ausgebreiteter Zyklus sind die Sonderkonzerte im Februar, in denen Kay Johannsen bisher von Bachs Cembalowerken die Goldberg-Variationen (1999), die Kunst der Fuge (2004), das Wohltemperierte Klavier I (2005) und die Sechs Partiten (2006) gespielt hat. Seit 2005 ist ein weiterer Zyklus der (fast) alljährlich im Juni stattfindende Wettbewerb für elektronische Musik in der Kirche Vers 1.1 ... ff. An der neuen Mühleisen-Orgel spielte Kay Johannsen im Jahr 2007 in 15 Konzerten ein weiteres Mal (nach 1997) Bachs gesamtes Orgelwerk. Im Juni/Juli 2003 stellte ein Zyklus in vier Abenden Bachs Kantaten vor.  Neben Bachs oratorischem Schaffen widmet sich Kay Johannsen mit der Stuttgarter Kantorei und der Stiftsphilharmonie Stuttgart (früher Ensemble 94) auch Händels Oratorien: Messiah (1998), Solomon (2004) und Israel in Egypt (2007).

Auch viele der Chöre, die regelmäßig in der Stunde der Kirchenmusik zu Gast sind, wie die Akademischen Chöre und Orchester der Universitäten Stuttgart und Tübingen, die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben mit Orchester, Chöre aus der näheren und weiteren Umgebung (Diakonissen-/Paul-Gerhardt-Kirche, Herrenberg, Winnenden, ...) und natürlich die Ensembles der Bachakademie anlässlich von Bachwoche und Europäischem Musikfest führen in regelmäßigen Abständen große Werke wie Oratorien, Messen, Passionen, Magnificat, Te Deum und Requiem auf.

Hinzu treten überaus beliebte Konzerte kleiner, exquisiter Vokal-, Instrumental- oder gemischter Vokal-/Instrumentalensembles, die häufig auf die Alte oder auch die Neue Musik spezialisiert sind, wie zum Beispiel die Freiburger Spielleyt oder das Calmus-Ensemble, im instrumentalen Bereich das Schlagzeugensemble Rhythmik attacca oder Blechbläserensembles wie das Ludwigsburger BlechBläserQuintett (LBQ), das Datura Posaunenquartett oder das Ensemble Variate. Die Orgelkonzerte, auch wenn sie zusätzlich zu jenen des alljährlichen Internationalen Orgelsommers veranstaltet werden, bei dem die Stuttgarter und die auswärtigen Virtuosen aus aller Welt mit ihrer legendären Kunst das Publikum verzaubern, haben ihr eigenes festes Publikum und gewinnen ständig weitere begeisterte Hörer hinzu. Schließlich sind auch A-cappella-Programme hervorragender Chöre wie des Mädchenchors Hannover, der Aurelius Sängerknaben Calw, des Windsbacher Knabenchors  u. ä. immer eine Attraktion: Die Stunde der Kirchenmusik sprüht auch in ihrem Jubiläumsjahr vor Leben, und dies wird hoffentlich noch viele Jahre lang so bleiben können!